Ladetraum Turbo: 50 Jahre Porsche-DNA
Es gibt Momente im Leben, die will man keinesfalls verpassen. Die erste Erkenntnis, die mich am Steuer des Porsche 992 Turbo S ereilt, ist, dass man mit diesem Auto nichts mehr verpassen wird, was man nicht verpassen möchte. So grob kann man beim Ablesen der Uhr gar nicht danebenliegen, dass ein aufgeladener Neunelfer das Zeit-Weg-Kontinuum nicht auseinanderreißen und zu Gunsten seines Fahrers neu zusammensetzen könnte. Es bedarf dafür auch keiner Anstrengung: Die Reserven, die in Motor, Fahrwerk und Bremsen schlummern, sind derart gewaltig, dass man sie innerhalb des gesetzlichen Rahmens schlicht und einfach nicht auszuloten vermag. Ganz gleich, wie sehr sich der Asphalt vor einem biegt.
Die zweite Erkenntnis sollte mich wenig später auf einem Parkplatz am Rande des Wienerwaldes erleuchten. Hier bin ich mit meinem Freund Thomas verabredet, um ein paar Jahre zurückzuspringen in der geflügelten Turbo-Historie. Konkret: Ganze 50 Jahre zurück – bis dorthin, wo alles angefangen hat. Thomas fährt Porsche 930, den allerersten zwangsbeatmeten, das als Witwenmacher bekannte Ur-Modell. Ein Ladetraum in Zinnmetallic, penibel gepflegt, originalgetreu erhalten. Unter seinem Flügel sitzt bereits der große 3,3 Liter Motor, mit dem die Leistung ab 1978 von 260 auf 300 PS angehoben wurde. Ein Auto, das auch für heutige Verhältnisse noch unglaublich schnell ist, im Alltag aber bestens funktioniert. Thomas fährt ihn im Sommer fast täglich, wie er sagt – diese Fähigkeit ist dem Turbo also nicht erst gestern angewachsen.
Dass wir heute, 50 Jahre nach dem ersten Turbo-Atemzug, den Urahn mit einem Erben zusammenführen können, ist einer durchaus bewegten Geschichte zu verdanken. Wir springen für einen Moment lang zurück in das Jahr 1973, als Porsche den 930 für den Pariser Autosalon 1974 vorbereitete. Er würde das stärkste jemals gebaute Straßenauto der Marke werden, was damals bedeutet: 260 PS aus drei Litern Hubraum, 5,5 Sekunden für den Sprint auf Landstraßentempo, Höchstgeschwindigkeit: über 250 km/h. Ein Fahrzeug, das Limits nach oben heben wollte, die Grenzen für Leistung neu definieren. Dass zeitgleich mit der Entwicklung des 930 die Ölkrise ausbrechen sollte, hatte man freilich nicht auf dem Plan.
Warum letztendlich doch alles kam, wie es kommen sollte, ist hauptsächlich einer Person zu verdanken: Dr. Ernst Fuhrmann. Der damals Vorstandsvorsitzende der Porsche AG war ein glühender Verfechter der Turbo-Technologie, mit der Porsche große Erfolge in der nordamerikanischen CanAm-Serie feierte. Seit 1969 standen die Stuttgarter dort mit dem 917 am Start, anfangs noch mit dem von Le Mans übernommenen Saugmotor. Der 4,5 Liter große und 530 PS starke Zwölfzylinder stellte sich für amerikanische Verhältnisse allerdings als zu bescheiden heraus – er war den acht Liter großen und rund 800 PS starken Aggregaten der Mitbewerber klar unterlegen. Für die Saison 1972 rüsteten die Porsche-Ingenieure deshalb auf Druckluft-Betrieb um, wodurch der 917 schlagartig 850, später sogar 1.100 bis 1.580 PS in die amerikanischen Rennstrecken fräste. Das Ergebnis: Porsche fuhr seinen anfangs überlegenen Mitbewerbern plötzlich auf und davon, 1972 und 1973 entschied man die Meisterschaft für sich. Fuhrmann war begeistert, der Turbolader hatte sich bewährt.
Unter dem gewaltigen Heckflügel dieses Porsche 930 warten 3,3 Liter Hubraum und 300 PS. Er soll den Neunelfer der Neigungsgruppe Ladedruck zuordnen, aber auch für kühle Ladeluft und Anpressdruck auf der Hinterachse sorgen.
Mit diesen triumphalen Erfolgen im Gepäck überzeugte Fuhrmann schließlich auch seine Vorstandskollegen. Der Turbolader sollte nicht länger nur den Rennstrecken vorbehalten bleiben, sondern den Weg in die Serienproduktion finden. Heute wissen wir: Was für ein Glück. Als Porsche am 3. Oktober 1974 in Paris das Tuch vom geflügelten Neunelfer hinunterriss, präsentierte man nicht nur den stärksten Serien-Porsche aller Zeiten, sondern legten auch den Grundstein für einen mittlerweile 50-jährigen Erfolg. Der Mythos 911 Turbo steht heute für markerschütterndes Beschleunigungsvermögen, für höchste Materialgüte und Verarbeitungsqualität, und für das unter Sportwagen einzigartige Talent, das Schöne mit dem Nützlichen zu verbinden.
Der Schwenk zurück in die Gegenwart zeigt uns vor allem eines: In 50 Jahren Porsche Turbo hat sich vieles, aber längst nicht alles verändert. Die für Porsche typische Neunelfer-Silhouette, das breite, weit ausgestellte Heck, der markante, turbo-typische Heckflügel – all das blieb dem Turbo über sieben Generationen erhalten. Geändert haben sich die Ausprägungen bestimmter Bauteile: So ist der gewaltige Flügel zum Beispiel einem kleineren, ausfahrbaren Spoiler gewichen, um den aerodynamischen Bedarf zwischen Tempo Stadt und 330 Sachen justieren zu können. Die zierlichen 16-Zoll Fuchs-Felgen wurden von 20-Zoll Vorder- und 21-Zoll Hinterrädern abgelöst, um den 420 Millimeter Rotoren der Ceramic Composite Bremsanlage den nötigen Platz zu verschaffen. Oder, etwas markanter ausgedrückt: Die Bremsscheiben von heute sind größer als die Felgen von damals.
Ein Porsche Turbo ist ein Porsche Turbo – auch nach 50 Jahren noch. Kein anderer Sportwagen blieb seiner Linie so treu wie der Porsche 911.
Insofern steht fest: Der Größenunterschied, der sich durch 50 Jahre Fortschritt anhäufe, ist in jeder Dimension ersichtlich. Thomas 930 misst 4,29 Meter in der Länge und 1,78 Meter in der Breite. Der 992 kommt auf 4,54 Meter Länge und 1,90 Meter Breite. Der Radstand des neuen Turbo ist im Vergleich zum Urahn um rund 18 Zentimeter gewachsen, die Spurweite an der Hinterachse um rund elf Zentimeter. Das sorgt zum einen für mehr optische Präsenz, aber auch für ein stabileres Fahrverhalten. Angesichts dieses Größen- und Leistungswachstums, der umfangreicheren Ausstattung, und dem Umstand, dass der 992 nicht mehr nur die Hinterräder, sondern jetzt alle Viere antreibt, bleibt die Gewichtszunahme verhältnismäßig gering: Etwa 1.300 Kilogramm muss der 930 bewegen, etwa 1.640 Kilogramm stemmen sich dem 992 entgegen.
Das Schöne mit dem Nützlichen verbinden: Ein Porsche 911 Turbo bringt neben schier endloser Geschwindigkeit auch eine gewisse Bereitschaft für Alltagstätigkeiten mit. Das war schon 1974 so – heute gilt das noch viel mehr.
Dass sich trotz der Unterschiede bei Größe und Leistung – 1974 schreiben wir noch 260, 2024 bereits 650 PS – im Fahrbetrieb noch immer gewisse Ähnlichkeiten finden, ist auf die dritte Erkenntnis des heutigen Tages zurückzuführen: Beide Modelle zählen zu den schnellsten Sportwagen ihrer Zeit. Die 5,0 Sekunden, die Thomas 930 für den Sprint auf Einhundert km/h benötigt, waren damals nicht weniger beeindruckend, als es die 2,7 Sekunden des 992 Turbo S heute sind. Im Gegenteil: Ein Ur-Turbo fordert Entschlossenheit von seinem Piloten, Fahrhilfen und Servolenkung sucht man vergebens. Wer den Verdichter im 930 mit vollem Druck belädt, der muss sich voll und ganz auf sein Können verlassen.
50 Jahre später verlangt einem der Porsche 911 Turbo S zwar weniger Ergebenheit gegenüber seinen eigenen Handlungen ab, doch die Sinne wollen nach wie vor geschärft bleiben: 650 PS und 800 Nm Motorleistung verteilen sich auf alle vier Räder, was übersetzt in Längsdynamik bedeutet: Die erwähnten 2,7 Sekunden von Null auf Einhundert km/h. 8,9 Sekunden von Null auf Zweihundert km/h. Höchstgeschwindigkeit: exakt 330 km/h. Dass jetzt ein blitzschnelles Achtgang-PDK, und nicht mehr eine Viergang-Handschaltung die Gänge sortiert, ist ein Zugewinn an Schnelligkeit und Komfort. Die Ceramic Composite- statt Stahlscheiben sind ein großes Sicherheitsplus.
Hinten anstellen! Ob mit 300 PS damals oder mit 650 PS heute: Der 911 Turbo ist nur dann einzufangen, wenn sein Fahrer das möchte.
Einen weiteren großen Schritt ist der Turbo in Sachen Lenkung und Fahrwerk gegangen. Muss man am Lenkrad des 930 noch ohne Servohilfe kurbeln, steuert man mit dem Volant des 992 auf Wunsch auch die hinteren Räder. Zusammen mit der geschwindigkeitsabhängigen Servolenkung wirft man den neuen Turbo wie auf Schienen durch Kurven, oder fädelt sich spielerisch in die Innenstadt-Garage ein. Im 930 hat man dabei längst den Schweiß an den Händen. Von dem Sammelsurium an technischen Innovationen, die all das erst ermöglichen – das Porsche Active Suspension Management zum Beispiel, das die Stoßdämpferhärte hunderte Male pro Sekunde anpasst, oder die Porsche Dynamic Chassis Control, die Wankbewegungen durch aktive Stabilisatoren minimiert – nimmt der Fahrer keine Notiz. Man ist ganz einfach schneller, präziser und sicherer unterwegs.
Ebenfalls typisch für ein 911 Turbo Modell: Das Vermögen, schnell sein zu können, aber nicht schnell sein zu müssen. Im alltäglichen Fahrbetrieb zeigen sich 930 und 992 Turbo S ruhig und gelassen, Starallüren braucht der alte wie der neue Turbo keine. Die Spreizung der Talente ist im 992 natürlich deutlich stärker ausgeprägt: Wer nach dem neuen Highscore auf der Rennstrecke nahtlos nach Hause pendeln möchte, der klickt das Fahrmodi-Drehrad von Sport Plus in die Normal-Stellung zurück, und erfreut sich an einer komfortablen Fahrwerksauslegung, an weichen, kaum wahrnehmbaren Schaltvorgängen, und an einer akustischen Zurückhaltung, die sich über das Burmester Surround Soundsystem mit wohligen Klängen füllen lässt.
Wo immer möglich Luxus, ansonsten wenig Ablenkung vom Tun. Das ist auch gut so, denn auf Fahrhilfen konnte man 1974 noch nicht setzen.
Dass Fahrmodi und Burmester noch nicht im Lastenheft des 930 standen, sei Dr. Ernst Fuhrmann 50 Jahre später verziehen. Dafür wusste er etwas anderes bereits: Das Projekt Porsche Turbo würde in der Automobilgeschichte für lange Zeit bestehen. Mit seinen über 1.500 PS hat der 917 die Begeisterung für Ladedruck zu den Zusehern an der Rennstrecke geblasen, mit dem 930 brachte Porsche sie schlussendlich auf die Straße. Für mich ist die letzte, aber die wohl wichtigste Erkenntnis dieses Tages: Auf den Mythos des Urahnen greifen all seine Erben zurück. Darauf wird Porsche auch in 50 Jahren noch bauen.
Dass sich in 50 Jahren vieles zum Besseren wandte, ist offensichtlich: Ein 911 Turbo aus 2024 ist ein Technologieträger – im Motorraum genauso wie in der Kabine. Typische Merkmale wie die fünf Rundinstrumente im Tachodisplay blieben erhalten.